Nov 232015
 

Bis Mitte August 2015 funktionierte die europäische Flüchtendenabwehrmaschinerie noch in gewohnten Bahnen.
Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen war zwar überfüllt. Die Menschen mussten unter unmenschlichen Bedingungen teilweise im Freien übernachten. Die innenpolitische Auseinandersetzung beschränkte sich um Aufnahmequoten der Bundesländer.
Vereinzelt gab es Demonstrationen gegen die Zustände in den Flüchtlingslagern, so etwa am 20. Juli: An die 500 Refugees und Unterstützer_innen zogen von der Bundesbetreuungsstelle Ost aus durch Traiskirchen. Nach einer Blockade einer Eisenbahnkreuzung beim Bahnhof Traiskirchen Lokalbahn wurde ein Refugee festgenommen.
Irene Palmetshofer berichtete in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/292964

Es bildeten sich aber bereits auch immer mehr gesellschaftliche Initiativen, die die Unterstützung von Geflüchteten in eigene Hände nahmen.
Unter dem Motto Support Refugee Women wurde auf die besonders schwierige Situation von Frauen auf der Flucht hingewiesen. Frauen_Lesben organisierten versuchten, gezielt Frauen_Lesben in Traiskirchen zu helfen. Christa Reitermayr sprach für die Nachrichten auf ORANGE 94.0 mit den Aktivist_innen:

http://cba.fro.at/296228

Künstler_innen gründeten die Initiative „Die schweigende Mehrheit sagt Ja“ (zu einer humanen Flüchtlingspolitik) und veranstalteten eine mehrtägige Mahnwache bei der Wiener Staatsoper.
Margit Wolfsberger sprach mit einem der Initiator_innen für die Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/293362

Flüchtende, die über die sogenannte „Balkan-Route“ von Ungarn über Österreich Richtung Deutschland reisen wollten, scheiterten Mitte August noch großteils an der Einreise nach Österreich. Die ÖBB ließen überfüllte Züge von der Polizei räumen, entweder gleich an der Grenze in Nickelsdorf, spätestens in Wien. Als am 20. August wieder fast 100 Flüchtende am Wiener Westbahnhof von der Polizei aus dem Railjet von Budapest nach München geholt und an der Weiterreise gehindert wurden, rief dies erstmals etwas Medieninteresse hervor. Die betroffenen Menschen wurden so lange am Bahnsteig eingekesselt, bis sie sich bereit erklärten, in Polizeibussen zur Registrierung ins Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände oder in die Bundesbetreuungsstelle Ost in Traiskirchen zu fahren.

Flüchtende, die nach Deutschland wollten, waren zumeist auf die Hilfe von Schlepper_innen angewiesen.

Am 27. August wurden 71 tote Menschen in einem an der Ostautobahn bei Parndorf abgestellten LKW gefunden. Sie waren gezwungen gewesen, sich Schlepper_innen anzuvertrauen, die sie in ein zu kleines, luftdichtes Fahrzeug gesteckt hatten, in dem sie elendiglich erstickten.

Die Politik reagierte mit Ankündigungen, Fluchtrouten noch strenger zu kontrollieren.

Antirassist_innen forderten hingegen, legale und sichere Fluchtwege zu öffnen. Noch am Abend des 27. Augusts versammelten sich mehr als 500 Menschen vor dem Innenministeriumsgebäude am Minoritenplatz, um der Toten zu gedenken und gegen die Politik, die keine sicheren Fluchtwege erlaubt, und so Flüchtende zwingt, ihr Leben zu riskieren, zu protestieren.
Mein Bericht darüber in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/295399

Als Reaktion auf die menschenverachtende Politik gegen Flüchtlinge riefen bislang unorganisierte Menschen zu einer Demonstration am 31. August auf, an der sich ganze 20.000 Menschen beteiligten. Kathi Gruber berichtete darüber in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/295405

In diesen Tagen spitzte sich die Situation insbesondere am Budapester Bahnhof Keleti pályaudvar immer mehr zu. Tausende Menschen saßen dort fest. Die Polizei ließ sie gar nicht mehr zu den Zügen.

Als am 31. August die Polizei in Budapest Flüchtenden wieder erlaubte, in Züge einzusteigen, traf der Vorstandsvorsitzende der ÖBB-Holding, Christian Kern, eine weitreichende Entscheidung, die erstmals Bewegung in die europäische Geflüchtetenabwehrpolitik brachte. Er ordnete an, den Flüchtenden die Ein- und Durchreise zu ermöglichen. Die ÖBB verstärkte ihre Züge, organisierte Sonderzüge. Jetzt sei nicht die Zeit für Dienst nach Vorschrift, sagte Kern später in einem Zeitungsinterview. Und unzählige Eisenbahner_innen halfen mit, die Reise der Flüchtenden zu ermöglichen.

Während unweit des Westbahnhofs sich tausende Menschen zur Demonstration für eine menschliche Politik sammelten, kamen hunderte weitere zum Westbahnhof, um die Flüchtenden zu empfangen, sie mit Lebensmittel zu versorgen, Informationen in von ihnen gesprochene Sprachen zu übersetzen. Sie kauften die Wasserflaschenregale aller umliegenden Supermärkte leer, um die ankommenden Menschen zu versorgen. Eine ungeahnte Dimensionen annehmende Welle der Solidarität mit flüchtenden Menschen nahm ihren Ausgang.

Der freie Fluchtweg währte nur kurz. Bereits am nächsten Tag räumte die ungarische Polizei den Bahhof Budapest Keleti pu.
Nur scheinbar wurde am 3. September für Flüchtende in Budapest wieder ein Zug zur Reise nach Österreich bereitgestellt. Vielversprechend war er mit einer den Schriftzug „Europa ohne Grenzen“ tragende Lok der Raaberbahn bespannt. Der Zug fuhr aber nur bis Bicske. Dort wurden die Passagier_innen zur Registrierung in ein Lager gebracht.
Ein Geflüchteter wollte weglaufen, stürzte und starb.

Schon am 2. September beschlossen ein paar Leute, selbst einen „Schienenersatzverkehr“ zu organisieren. Am Sonntag, dem 6. September, so war der Plan, sollten sich möglichst viele Menschen mit Privatautos nach Ungarn aufmachen, flüchtende Menschen abholen und in Form eines Refugee-Convoys sicher über die Grenze bringen.

Am 4. September machten sich Flüchtende in Budapest zu Fuß in Richtung Österreich auf.

Die Regierungsspitzen von Ungarn, Deutschland und Österreich wurden nervös. Noch in der Nacht wurde ein sicherer Korridor für Flüchtende von Ungarn über Österreich nach Deutschland beschlossen.

Ab dem 5. September konnten zigtausende Geflüchtete sicher reisen, mit allem, was Räder hatte: mit Bussen, mit Zügen, mit dem Refugee-Convoy.

Wieder kamen hunderte Menschen auf die Bahnhöfe – zum Wiener Westbahnhof und Hauptbahnhof und zu anderen Bahnhöfen entlang der Strecke nach München – unterstützten die ankommenden und durchreisenden Refugees, versorgten sie, organisierten Unterkünfte oder hießen sie einfach nur willkommen.
Auch in Spielfeld organisierten unzählige freiwillige solidarische Helfer_innen die Versorgung und Unterstützung tausender Menschen, die dort in Zügen, Bussen oder zu Fuß ankamen, umsteigen mussten oder auch für geraume Zeit festsaßen, bis ihre Weiterfahrt organisiert werden konnte.

Sondersendung auf ORANGE 94.0 vom 5. September:

http://cba.fro.at/295435

Sondersendung auf ORANGE 94.0 vom 7. September:

http://cba.fro.at/295703

Beitrag über Refuge-Convoy für ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/295725

Die hunderten Helfer_innen wollten aber nicht „bloß“ helfen. Einige formulierten auch politische Forderungen.
Beitrag darüber in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:
http://cba.fro.at/296225

Die komplette Aufzeichnung einer Pressekonferenz der Fluchthelfer_innen kann hier angehört werden:

http://cba.fro.at/295995

Die Künstler_inneninitiative „Schweigende Mehrheit“ arbeitete unterdessen mit Geflüchteten in Traiskirchen an einer Inszenierung von Jelineks „Schutzbefohlenen“. Am 12. September feierte die Performance eine fulminante Premiere im Rahmen des in der Arena von der Initiative AYKIT veranstalteten Festivals für Europa.

Bericht darüber in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/296704

Am 13. September verschärfte Deutschland die Grenzkontrollen. Alle durchgehenden Zugverbindungen wurden teils vorübergehend, teils für Monate eingestellt. Wieder mussten sich Flüchtende zu einem Fußmarsch aufmachen, diesmal von Salzburg nach Freilassing. Nach und nach wurden auch wieder Sonderzüge über die Grenze in Verkehr gesetzt.

Am 15. September machte Ungarn die Grenze zu Serbien und am 17. September auch zu Kroatien dicht. Der Fluchtweg über Ungarn war somit nicht mehr möglich. Die Fluchtroute verlagerte sich in westlicher Richtung. Nun mussten Flüchtende über Kroatien und Slowenien ziehen.

Auch in Spielfeld an der österreichisch-slowenischen Grenze funktionierte die Versorgung von Flüchtenden nur mit zivilgesellschaftlicher Unterstützung.
Spürbar stärker geworden sind aber auch bislang eher unter der Wahrnehmungsgrenze agierende rassistische Initiativen, die eine Schließung der Grenze für schutzsuchende Menschen forderten.

Am 3. Oktober folgten in Wien rund 30.000 Menschen dem Aufruf von 120 Organisationen und Initiativen, für ein menschliches Asylrecht zu demonstrieren.
Einem danach stattgefundenen „Solidaritätskonzert für ein menschliches Europa“ unter dem Titel „Voices for Refugees“ wohnten zwischen 100.000 und 150.000 Menschen bei.

Beitrag zur Ankündigung der Demo für ein menschliches Asylrecht in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/297262

Beitrag zur Ankündigung der „Voices for Refugees“ auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/297803

Im November wurde trotz zeitweiliger verbaler Entgegnungen der SPÖ klar, dass Österreich bei Spielfeld einen Grenzzaun zu Slowenien bauen werde. Am 13. November wurde der konkrete Plan von der Innenministerin präsentiert. Für den 14. November wurde zu einer Protestkundgebung gegen Grenzzäune zur Flüchtendenabwehr geplant.
Diese Kundgebung stand letztlich auch im Zeichen der faschistischen Anschläge in Paris am 13. November. Mehrfach wurde betont, dass die Anschläge des Daesh niemals Maßnahmen gegen jene legitimieren können, die vor dessen Terror in ihren Herkunftsstaaten flüchten.

Bericht über die Kundgebung gegen Grenzzäune am 14. November in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/301593

Die rechtsextreme „identitäre Bewegung“ organisierte Kundgebungen in der Nähe der Grenze. Angedrohte Grenzblockaden vermochte sie nicht wahrzumachen. Als am 15. November die Identitären abermals nach Spielfeld mobilisierten, riefen antifaschistische Gruppen zu einer Gegendemo und zur Solidarität mit Flüchtenden auf.

Bericht darüber in den Nachrichten auf ORANGE 94.0:

http://cba.fro.at/301591

Fortsetzung folgt.

 Posted by on Mo., 23. November 2015 at 22:48